„Souverän ist, wer über die Zeit verfügt“

Zusammen mit Tamara Ehs (Wien) und Ece Göztepe (Ankara) habe ich einen Beitrag über die Beschleunigung der Entdemokratisierung im Ausnahmezustand verfasst. Der Text, in dem wir unter anderem die Corona-Maßnahmen in Österreich, der Türkei und Deutschland vergleichen, wird in der kommenden Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie publiziert. Diese wird sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Ausnahmezustand und Zeitlichkeit befassen.

Leseprobe

„In demokratisch verfassten Staaten folgen Ausnahmezustände einem gewissen Muster (vgl. Lemke 2017): Wenn angesichts einer drängenden Krise und knapper Zeit die „Stunde der Exekutive“ (Diebel 2019) eingeläutet wird, geraten andere Bereiche des demokratischen Rechtsstaates, insbesondere die legislativen Prozesse mit zeitintensiven deliberativen Entscheidungsmodi, an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Während Regierungen durch hochgradig beschleunigte Entscheidungen und oft übereilte Rechtssetzung Handlungsmacht zur Schau stellen, erfahren Bürger:innen und Zivilgesellschaft eine mitunter signifikante Einschränkung ihres Handlungsspielraumes. Diese Ungleichzeitigkeit der Verfügbarkeit demokratischer Gestaltungsmacht in Zeiten der Krise scheint dabei unabhängig vom konkreten Anlass des Ausnahmezustandes zu sein. Ob dieser nun nach Terroranschlägen wie in Frankreich, nach Putschversuchen wie in der Türkei oder angesichts der Pandemie in Deutschland und Österreich ausgerufen wurde: Die Geschwindigkeit im Handeln der Exekutive behindert demokratische Deliberation in der Legislative ebenso wie die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Oft ist ungewiss, welche Regeln gerade gelten; und um sich zweifelsfrei gesetzeskonform zu verhalten, bleibt den Bürger:innen manchmal nur die Untätigkeit. Der Ausnahmezustand ist somit klar keine Zeit der „eingebetteten Demokratie“ (Merkel 2016: 455).

Der vorliegende Beitrag thematisiert die Theorien des Ausnahmezustands unter einem neuen Blickwinkel, nämlich jenem des Zeitregimes. Er spürt hierfür im Vergleich dreier Fallbeispiele jüngster Vergangenheit Ausnahmezuständen und ihren Entdemokratisierungswirkungen in Österreich, der Türkei und Deutschland während der Coronapandemie nach. Mit ‚Entdemokratisierung‘ ist – wie später noch ausführlicher erläutert wird – der schnell geübte Verzicht auf verfassungsrechtlich vorgesehene reguläre Entscheidungsmechanismen gemeint, deren Hauptmerkmal den Entscheidungen vorausgehende öffentliche, auf einen Konsens abzielende kontroverse Debatten ist. (…)“

Nähere Informationen zur Zeitschrift für Politische Theorie (ZPTh) finden sich hier.

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