„Crisis actor“

Anlässlich der heutigen Finissage der Ausstellung „Crisis Actor“ von Baker Wardlaw im For Space in Basel erfolgte auch die Veröffentlichung des Begleitmagazins zur Ausstellung. Zusammen mit Jak Ritger, Celia Martín und Olga Reznikova habe ich das Magazin mit einem Beitrag mitgestalten dürfen.

Nachstehend findet sich die Einleitung zu meinem Text „Eine gefährliche Sache“ / „A dangerous thing“, einmal in deutscher und einmal in englischer Übersetzung. Das vollständige Magazin kann hier heruntergeladen werden.

DE – Nur sehr wenige rechtliche Normen des Staates sind ähnlich paradox wie der Ausnahmezustand. Mit seiner Verortung zwischen Recht und Durchsetzungsmacht wirkt er auf manche schillernd, gar faszinierend. Und entsprechend viel ist über ihn geschrieben worden.

Einschätzungen über das Schrifttum zum ausnahmezustandlichem Regieren, die, zugegeben, weniger auf einer systematischen Erhebung, als vielmehr auf anekdotischer Evidenz basieren, zeigen, dass sich das Schillernde, das Faszinierende des Ausnahmezustandes gleichsam auch im Nachdenken über ihn niedergeschlagen hat. So drängt sich etwa der Eindruck auf, dass in der einschlägigen rechts- und politikwissenschaftlichen Literatur in neun von zehn Publikationen die Referenz auf einen Rechtswissenschaftler aus dem sauerländischen Plettenberg nicht fehlt. Hierbei steht ebenso häufig der schillernde Satz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ im Vordergrund – und das, obschon hochgradig fraglich ist, welcher analytische Wert diesem Satz überhaupt innewohnt.

Eine weitere anekdotische Evidenz zur Literatur über den Ausnahmezustand besagt, dass der Name von Clinton L. Rossiter hingegen maximal in einer von zehn Publikationen zu finden ist. Rossiter hatte in seiner Studie über Constitutional dictatorship bereits 1948 auf die Abgründe hingewiesen, die sich in Demokratien auftun können, wenn diese in der Krise zum Ausnahmezustand greifen: „Constitutional dictatorship is a dangerous thing.“ Auf überaus plastische und nicht minder drastische Art und Weise verdeutlicht er die Paradoxie von exekutivlastigem Regieren in Krisensituationen, gerade was demokratisch verfasste Staaten anbelangt: Die Anwendung des Ausnahmezustandes bedeutet notwendig eine Abkehr von demokratischen Standardverfahren, sie schränkt macht- bzw. gewaltenteilige Verfahren ebenso ein wie Grund- bzw. Menschenrechte. Dieses alternate law demokratischen Regierens dient vordringlich dem Schutz des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats. Völlig unklar ist dabei jedoch, ob und wann die einmal eingeleitete Abkehr von demokratischen Standards nach Bewältigung der Krise wieder umzukehren ist.

Ausnahmezustand, so wird man jenen neun von zehn Autor*innen entgegenhalten müssen, die immer noch gen Plettenberg schielen, ist also kein schillerndes, faszinierendes, irgendwie entrücktes Souveränitäts-, sondern in allererster Linie ein manifestes Demokratieproblem, gerade für unsere Gegenwartsgesellschaften, die sich einem immensen Krisendruck ausgesetzt sehen. Wie aber konnte es dazu kommen – oder, anders gefragt: Warum wurde aus einer Lösung ein Problem?

EN – Very few legal norms of the state are as paradoxical as the state of exception. With its position between law and the power of enforcement, it has a colorful, even fascinating effect on some. And accordingly, a great deal has been written about it.

Assessments of the literature on state of exception governance, which, admittedly, are based less on a systematic survey than on anecdotal evidence, show that the dazzling, fascinating nature of the state of exception has also been reflected in thinking about it. One gets the impression, for example, that in nine out of ten publications in the relevant legal and political science literature, there is no lack of reference to a legal scholar from Plettenberg in the Sauerland. The dazzling phrase “Sovereign is he who decides on the state of exception” is just as often at the center of attention – even though it is highly questionable what analytical value this phrase has at all.

Further anecdotal evidence from the literature on the state of exception shows that Clinton L. Rossiter’s name can be found in a maximum of one in ten publications. Rossiter had already pointed out in his 1948 study on constitutional dictatorship the abysses that can open up in democracies when they resort to a state of emergency in a crisis: “Constitutional dictatorship is a dangerous thing.” He illustrates the paradox of executive-heavy governance in crisis situations in an extremely vivid and no less drastic way, especially as far as democratically constituted states are concerned: the application of a state of exception necessarily means a departure from standard democratic procedures, it restricts procedures based on power and authority as well as fundamental and human rights. This alternative law of democratic governance serves primarily to protect the democratic rule of law and the constitutional state. However, it is completely unclear whether and when this departure from democratic standards, once initiated, can be reversed once the crisis has been overcome.

A state of exception, as those nine out of ten authors who are still squinting at Plettenberg will have to counter, is, therefore, not a dazzling, fascinating, somehow enraptured sovereignty problem, but, first and foremost, a manifest democratic problem, especially for our contemporary societies, which are exposed to immense crisis pressure. But how did this come about – or, to put it another way: why did a solution become a problem?

Hinterlasse einen Kommentar